Geschichten vom Schilderförster: Die Gefährten – unterwegs in Hamburg

Es war bereits nach zehn Uhr abends und an Feierabend war leider noch nicht
zu denken. Hamburg lag unter einer samtig glänzenden Schneedecke und schien
bereits zu schlafen. Ich begegnete schon seit einiger Zeit keinem Menschen
mehr, wenn ich draußen mit meinen Schildern herumstapfte und auch auf den
Straßen war so gut wie kein Verkehr mehr. Einzig der seit Tagen am Limit
agierende Winterdienst brummte gelegentlich in der Ferne. Vor einer Stunde
hatte ein starkes Schneetreiben eingesetzt und wenn ich aussteigen musste, um
ein Halteverbot in diese Märchenwelt zu stellen, wünschte ich mir eine Skibrille.
Abgesehen davon und dass ich bereits seit zwölf Stunden durch die Stadt kroch,
war es eine wunderschöne Nacht in strahlendem blauen Licht. Es herrschten
Temperaturen weit unter null Grad Celsius und wie friedlich schlummernd die
Stadt auch da liegen mochte, sie war es nicht. Ganz im Gegenteil!
Ich war in Osdorf, als ich an einer Ampel im Nirgendwo wartete. Ein Bär und
ein Reh überquerten die Straße. Er war ein stämmiger Kerl von knapp zwei
Metern Größe und sie eine zierliche junge Frau, beide gerade mal volljährig,
schätzte ich. Sie hatten die Köpfe zwischen die Schultern gezogen und sahen
nicht unbedingt wie ein glückliches Paar aus. Denen ist bestimmt ziemlich kalt, so
ohne Jacken!
An manchen Tagen komme ich gut rum in Hamburg und in jenen Tagen ganz
besonders, da ich als einziger gesunder Schildersteller in der Firma verblieben war.
Morgen war Heiligabend. Ich würde ein paar Bücher in Geschenkpapier schlagen, meine
Tasche packen und dann mit der Bahn zu meinen Eltern aufs Land fahren. Nur
noch ein paar Stunden durchhalten.
Es war inzwischen kurz vor Mitternacht und ich fuhr auf dem Langenfelder
Damm, als ich den Bären und das Reh wieder sah. Sie trottete ihm in einigen
Metern Abstand nach, beide hatten die Arme um den Körper geschlungen und
strebten unermüdlich einem unbekannten Ziel entgegen. Ganz schön weit von
Osdorf, dachte ich.
Gegen ein Uhr morgens am Vierundzwanzigsten hatte ich endlich meine letzten
Schilder aufgestellt. Nun würde ich direkt nach Haus fahren, heiß duschen und
danach zufrieden mit mir ins Bett kriechen. Hauptsache, ich finde schnell einen
Parkplatz! Tatsächlich hatte ich das Glück des Tüchtigen, wie ich ohne Zweifel
behaupten darf, und fand unmittelbar vorm Haus einen Platz. Geschafft, kaum
zu glauben. Ich hatte die Woche wirklich überstanden! Doch was war das? Im
Kegel meiner Scheinwerfer erschienen die bemitleidenswerten Gefährten aus
der Wildnis.

„Hey Mann, könnt ihr mir mal verraten, wo ihr noch hin wollt?“ Ein Ruck ging
durch mich und ich war aus dem Wagen gesprungen. Ich erklärte ihnen, wo ich
sie das erste Mal gesehen habe und sie sich den Tod holen werden, wenn sie so
weiter marschieren. „Ich werde euch jetzt nach Hause bringen, egal wie weit das
noch ist!“
Das Mädchen saß zusammengekauert zwischen uns und sagte die gesamte Fahrt
über kein Wort. Nur einmal, kurz bevor sie eingestiegen war, schaute sie mir in
die Augen, als wolle sie mich warnen. Er war ein einfacher junger Mann und
erklärte mir erschreckend gelassen, fast gleichmütig, als berichte er vom Müll
runter tragen, dass sie auf einem X-Mas Hip-Hop Konzert waren und auf dem
Weg zum Nachtbus überfallen worden waren. Er hatte nichts versucht, weil es
sechs waren und sie hatte geschimpft wie eine Marktfrau. Ohne Jacken, Geld
und Handys hatten sie sich gezwungen gesehen, zu Fuß nach Hause zu gehen.
Nach Hamm!
Vor dem Block, in dem sie wohnte, ließ ich die beiden aussteigen. Auf dem
Gehweg gab mir der Bär seine mächtige Hand und bedankte sich für meine
Hilfe. Das Reh schaute mich ernst an und sprach die letzten Worte, bevor die
beiden entkräftet, aber froh im Hauseingang verschwanden. „Frohe Weihnachten!“

N.